April 2016

April 2016


Liebe Scholé-Freunde,

Mein April-Bericht verspätet sich, weil in diesem Monat so viel geschehen ist! Als erstes möchte ich von einer Jahresprüfung berichten, bei der ich als Zaungast dabei sein durfte. Kaum etwas dominiert die Diskussion um das Freilernen so sehr wie das brisante Thema Jahresprüfungen… Es sorgt für endlosen Diskussionsstoff in den Familien und löst oft völlig irrationale Ängste aus. Ich persönlich bewundere die wenigen Eltern, die sich davon überhaupt nicht beeindrucken lassen, sondern die Entfaltung ihrer Kinder fördernd begleiten, ohne den Segen einer Behörde dafür zu brauchen. Es freut mich aber auch, dass viele Freilernerkinder diese Prüfungen sehr wohl absolvieren, denn die Bedenken der Zweifler können am besten natürlich durch handfeste Beweise entkräftet werden!

An einem sonnigen Apriltag habe ich also in der Integrativen Lernwerkstatt Brigittenau, einer berühmt reformfreudigen öffentlichen Volksschule, die Gruppenprüfung von 9 Kindern miterlebt, die mit ihren Eltern und ihrer Lernbegleiterin aus dem Waldviertel angereist waren. WINGS heißt die Freilernergruppe, die von Eugenia Lackey und ihrem Mann erst im Herbst vorigen Jahres in Allentsteig gegründet worden ist.

In dem Klassenzimmer, wo die Prüfung stattfindet, sucht sich jedes Kind einen Platz, die Eltern warten draußen. Genia begrüßt die beiden Prüfer, einen Lehrer und eine Lehrerin. Dankbar, dass die beiden diese Mühe freiwillig auf sich nehmen, obwohl die Bezahlung nur wenige Euro pro Prüfling beträgt, hat sie ihnen einen Geschenkkorb mitgebracht: von den Kindern selbst gebackene Kekse, Pflänzchen aus ihrem Garten und Kräutertees. Dann befestigt Genia die mitgebrachten Schaubilder – mit den Kindern angefertigte Plakate zu verschiedensten Themen – ringsum an den Wänden.

Die Prüfung beginnt mit Singen und Tanzen in drei Sprachen – englisch, deutsch und russisch (Genia ist gebürtige Russin, ihr Mann, ein Musiker, Amerikaner). Als die beiden Lehrer sich spontan in den Kreis einreihen und mitmachen, so gut sie können, ist das Eis gebrochen. Genia lächelt erleichtert, denn die Stimmen der Kinder klingen nun plötzlich viel lauter und klarer… Als nächstes präsentieren die älteren Kinder (3. und 4. Klasse) eines nach dem anderen ihre Schaubilder zu selbst gewählten Themen – Saurier, Hühner, Wind, Wald, Stabheuschrecken. 10 bis 20 Minuten sprechen sie frei über all das, was sie auf ihrem Schaubild zusammengefasst haben. Am meisten beeindruckt mich eine kleine Bauerntochter, die in schönstem Waldviertlerisch über Hühnerrassen, die Entwicklung der Küken, Fütterung, Unterbringung und x weitere nie gehörte Details der Hühnerhaltung spricht, als hielte sie eine Vorlesung an einer Fachhochschule! Auf ihrem Plakat klebt unter anderem ein Foto von einem rostigen alten Auto – was ist denn das? Der heimische Hühnerstall!

Auch die anderen Referate sind so professionell und ausführlich, dass die beiden Lehrer, die manchmal Zwischenfragen stellen und immer wieder beifällig nicken, beim letzten schon besorgt auf die Uhr schauen, weil ihr Zeitplan durcheinander gerät. Die nächsten 3 Stunden beschäftigen sich die Kinder konzentriert mit den ausgeteilten Zetteln – je nach Altersgruppe Additionen, Divisionen, Ergänzen fehlender Wörter, Bestimmen von Wortarten und Satzteilen. Genia legt den Lehrern die Mappen vor, in denen die Aufsätze, Zeichnungen und Übungen jedes Kindes gesammelt wurden. Die Stimmung ist unverändert positiv, obwohl doch alle schon ziemlich müde sein müssen – kein einziges Kind quengelt oder jammert! Nach fast 5 Stunden muss ich gehen und erfahre daher erst am nächsten Tag, dass alle Kinder bestanden haben – Notendurchschnitt 1,1.

Ich freue mich mit Genia und den Eltern über dieses Ergebnis, obwohl es völlig unerheblich ist im Vergleich zu den Dingen, für die es keine Schulnoten gibt: Selbstbewusstsein, Verständnis für andere, innere Stärke, Wissen um die eigenen Fähigkeiten, praktische Fertigkeiten wie Balancieren, Gärtnern oder Nähen. Davon konnte ich mich einige Tage danach bei einem Besuch der WINGS in Allentsteig mit eigenen Augen überzeugen! Unter www.wings-genial.org findet ihr weitere Informationen über dieses großartige Projekt und die Aktivitäten, die dort angeboten werden. Unter anderem will Alexander Schatanov Mitte Juni gemeinsam mit Genia ein buntes dreitägiges Programm für Eltern und Kinder zusammenstellen – mit Wanderungen, Spielen, Geschichten und Gelegenheit zu Austausch und Reflexion für die Erwachsenen.

Letzte Woche hat auch die erste Partie der Colearning-Kinder die Jahresprüfung bestens bestanden, ebenso wie einige weitere Freilernerkinder aus meinem persönlichen Bekanntenkreis. Sie alle hoffen, dass sie auch im nächsten Jahr Prüfer finden werden, die der Sache des Freilernens prinzipiell aufgeschlossen gegenüberstehen, denn damit steht und fällt die Motivation der Kinder! Geraten sie bei der Prüfung nämlich an Lehrer, die ihnen mit Misstrauen und Ablehnung begegnen, kann das so dramatische Auswirkungen auf den Gemütszustand der Kinder haben, dass die Eltern sie einer solchen Belastung nicht noch einmal aussetzen wollen. Auch das habe ich leider schon miterlebt… Um so größer ist meine Dankbarkeit für jene Prüfer, die den Kindern respektvoll begegnen und dafür mit Erlebnissen belohnt werden, die ihren Schulalltag auf ungeahnte Weise bereichern!

Fortsetzung folgt… herzlichste Frühlingsgrüße Alexandra und Sibylle