Dezember 2016

Dezember 2016


Liebe Scholé-Freunde,

Mit 19 Jahren hörte ich bei einem Kongress in Salzburg den fulminanten Vortrag eines großen hageren Mannes mit Denkerstirn, leuchtendem Blick und tiefen Lachfalten. Sein gewinnendes Lächeln und die liebevollen Gesten seiner ausdrucksvollen Hände schienen ein Gegengewicht zu der kristallklaren Härte seiner Worte bilden zu wollen. Es war Ivan Illich, katholischer Priester, Universalgelehrter und Rebell, dessen ebenso leidenschaftliche wie tiefgründige Überlegungen zu brennenden gesellschaftspolitischen Themen mich nachhaltig beeindruckt haben. Sein berühmtestes Buch, „Die Entschulung der Gesellschaft“, erschienen 1971, habe ich kurz nach dem Salzburger Vortrag gelesen, doch die Tragweite dieser Streitschrift konnte ich damals nicht einmal annähernd erfassen. Illichs Gedanken sind noch heute so unerhört, dass das Rechtschreibprogramm meines Macs das Wort Entschulung sofort korrigiert auf EntschulDung…:-))

Vergangenen November waren mein Mann und ich in Begleitung gebildeter Singhalesen 14 Tage lang im Süden von Sri Lanka unterwegs. Auf dieser Reise musste ich oft an Ivan Illich denken. Er hatte selbst mehrere Schulen und Universitäten absolviert, eine Hochschule sogar als Rektor geleitet, bevor er in Puerto Rico und Mexico erstmals die Gelegenheit bekam, aus der Nähe zu beobachten, wie über Schulgründungsprogramme die Abhängigkeit von Konsumgütern und deren Produzenten in „unterentwickelte“ Gebiete exportiert wird. Dabei wurde ihm bewusst, dass es ein heimliches Curriculum, einen unsichtbaren Lehrplan gibt, der uns alle, unabhängig von der gerade vorherrschenden politischen Ideologie, zu Konsumenten erzieht.

In Sri Lanka habe ich noch besser verstanden, was er damit meint. Diese paradiesische Insel an der Südspitze Indiens steckt mitten im Globalisierungsprozess. In der Hauptstadt Colombo schießen immer mehr und immer höhere Wolkenkratzer zum Himmel. Von Trumps Wahlsieg haben wir in einem kleinen Esslokal am Rand einer Überlandstraße erfahren, wo neben dem Eingang ein Fernsehapparat hing, über den ein chinesischer Nachrichtensender 24 Stunden täglich englischsprachige Nachrichten sendet… Der Großteil der Bevölkerung scheint allerdings noch stark von der buddhistisch-hinduistischen Kultur geprägt zu sein. Das ist mir vor allem an der Gelassenheit aufgefallen, mit der sich die Menschen im Verkehrsgewühl bewegen, und an ihrer selbstverständlichen Freundlichkeit den Tieren gegenüber. Singhalesische Fahrer steigen ohne Murren auf die Bremse, damit Büffel oder Kühe, die frei am Straßenrand grasen dürfen, jederzeit gefahrlos die Fahrbahn überqueren können. Und die vielen herrenlosen Hunde, die überall herumlaufen, können sich darauf verlassen, dass die Menschen ihr Essen mit ihnen teilen: Anders als die abgemagerten, verletzten, verschreckten Straßenköter, denen ich in Südeuropa oft begegnet bin, wirkten sie alle gesund, zutraulich und wohlgenährt.

In ländlichen Gegenden bekamen wir noch einen Eindruck vom traditionellen Leben der Menschen, die in luftigen Hütten oder Häusern im Schatten herrlicher tropischer Bäume leben und ihre kunstvoll terrassierten Reisfelder mit Wasserbüffeln bestellen. Doch bis ins letzte Bergdorf gab es zwei untrügliche Anzeichen dafür, dass die Globalisierung bereits gesiegt hat: Erstens die allgegenwärtige Werbung internationaler, vor allem amerikanischer und chinesischer Firmen auf Plakaten oder flimmernden Bildschirmen und zweitens die vielen uniformierten Kinder…

An Wochentagen bricht in den Städten zweimal täglich der Verkehr zusammen: zu Schulbeginn und zu Schulschluss. Die Kinder der wohlhabenden Inselbewohner, die oft mit Privatautos zur Schule gebracht und abgeholt werden, erkennt man an ihren farbigen Uniformen – sie besuchen muslimische oder katholische Privatschulen. Die Schülerinnen und Schüler der staatlichen Schulen, die aus überfüllten Bussen oder dreirädrigen Taxis quellen, sind an ihrer rein weißen Kleidung zu erkennen: weiße Faltenröcke, Blusen und Krawatten für die Mädchen, kurze oder lange Hosen mit weißen Hemden und Krawatten für die Knaben. Ich habe mir vorgestellt, wie sich die Kinder bei über 30 Grad Lufttemperatur und fast 100% Luftfeuchtigkeit in diesen für das englische Klima entworfenen Kleidungsstücken fühlen mögen… (Die traditionellen Saris der Frauen und die Sarongs der Männer sieht man fast nur noch bei den Ärmsten oder bei festlichen Anlässen.) Vor allem aber habe ich mich gefragt, wie die armen Mütter es ohne Waschmaschine und elektrisches Bügeleisen schaffen, dass ihre Kinder täglich so sauber und adrett gekleidet das Haus verlassen?! Und an Puja, dem großen Vollmond-Fest, an dem ich zahlreiche Einheimische in rein weißer Festkleidung in die Tempel strömen sah, die sonst hauptsächlich von Touristen besucht werden, habe ich mir darüber Gedanken gemacht, ob die weiße Kleidung nicht mit Absicht aus dem religiösen in den schulischen Kontext übertragen wurde?

Sicher ist, dass die Schule heute – in Sri Lanka wie überall auf der Welt – eine ebenso zentrale Rolle spielt wie einst die Religion. Sie produziert die Arbeiter, Angestellten, Beamten und Manager, die das moderne Wirtschaftsleben in Gang halten. Sie bestimmt nicht nur den Tagesverlauf der schulpflichtigen Kinder, sondern auch den Lebensrhythmus der übrigen Familienmitglieder. Sie trägt zum Aussterben der Dörfer und dem Megawachstum der Städte bei, denn wenn Schulbildung zum entscheidenden Faktor für das Fortkommen wird, bemühen sich natürlich die meisten Eltern, dorthin zu ziehen, wo ihre Kinder eine möglichst gute Schulbildung erwerben können.

Die Sprache ist verräterisch: Die Redewendung „Schulbildung erwerben“ deutet darauf hin, dass auch das Wissen in der Konsumgesellschaft Warencharakter angenommen hat. Genau diesen Zusammenhang hat Ivan Illich in seinen Schriften analysiert, wobei er nicht verkennt, dass die allgemeine Schulbildung im 19. Jahrhundert einen entscheidenden Beitrag zur Überwindung des Feudalismus geleistet hat. Doch wie viele andere fortschrittliche und befreiende Entwicklungen begann sie irgendwann unbemerkt zu kippen und die Freiheit der Menschen eher einzuschränken als zu fördern.

Aus verschiedenen Perspektiven beschreibt Illich in seinen Aufsätzen den Vorgang der Kapitalisierung des Wissens, das von Experten definiert (= eingegrenzt) und verwaltet (= in ihre Macht gebracht) wird. Als Volksschul-, Hauptschul-, AHS-, BHS- oder höheres Fachwissen wird es den Konsumenten angeboten. Schulzeugnisse und Universitätsabschlüsse dienen dabei als Quittungen, sprich als amtliche Bestätigungen dafür, dass das Wissen rechtmäßig erworben wurde. Können allein genügt nicht – ohne amtliche Bescheinigung wird es gewöhnlich nicht anerkannt, so als handelte es sich um ein unrechtmäßig erworbenes Gut. Wie bei allen anderen Konsumartikeln gibt es aber auch bei dem zur Ware gewordenen Wissen verschiedene Qualitätskategorien: In den öffentlichen Pflichtschulen wird die Masse der Niedriglohnempfänger herangebildet, während Eliteschulen ein besonders hochwertiges Produkt anbieten, das normalerweise Kindern aus begüterten Familien vorbehalten bleibt und ihnen Zugang zu den Schaltstellen der Macht in Wirtschaft, Wissenschaft und Politik eröffnet.

Da wir alle das heimliche Curriculum, den unsichtbaren Lehrplan der Schule durchlaufen haben, finden die meisten von uns nichts dabei – dieser Vorgang ist doch ganz normal, um nicht zu sagen alternativlos! So konnte ich auch auf meiner Reise nach Sri Lanka meine Gedanken und Gefühle mit niemandem teilen: Die wohlhabenden und gebildeten Leute regten sich lieber über die Verkehrsstaus auf und riefen nach strengeren Regeln, in erster Linie natürlich für Busse und dreirädrige Taxis… Und die so genannten kleinen Leute haben keine Zeit zum Nachdenken, sie sind mit dem schieren Überleben vollauf beschäftigt, denn in der schönen neuen Warenwelt steigen die Preise viel schneller als ihre schändlich niederen Einkommen… So bleibt die gesellschaftliche Ordnung unverändert erhalten, egal welche Partei oder Ideologie gerade am Ruder ist.

Für Ivan Illich gibt es sehr wohl eine Alternative: Indem wir, statt nach immer MEHR zu streben, danach fragen, was GENÜGT, können wir uns ganz bewusst dem Wachstumszwang der Konsumgesellschaft entziehen und ein gutes Leben für alle ermöglichen: Illich bezeichnet es als CONVIVIALITY und versteht darunter das freundschaftliche Zusammenleben mit Natur und Mitmenschen, ohne Leistungs- und Konkurrenzdruck. Dass seine Vision inzwischen keine Utopie mehr ist, haben mir nicht nur die Freilerner und der Colearning Space bewiesen – in dem Film TOMORROW, den junge Filmer über Crowdfunding finanziert haben, findet ihr noch mehr inspirierende Beispiele einer neuen Conviviality…

Möge diese Entwicklung 2017 rasant weiter um sich greifen…! Das wünschen sich und euch herzlichst Alexandra und Sibylle