April 2017
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Liebe Scholé-Freunde,
Diesmal möchte ich euch über meine Erlebnisse mit den wunderbaren Sozialpionieren im Colearning Space berichten. Eine Neuregelung der Jahresprüfungen steht hoffentlich bevor, doch für heuer haben die Kleinen ihre Jahresprüfung bereits hinter sich (wieder haben sie alle bestanden), während die Großen sich gerade darauf vorbereiten. Erst danach beginnt die große Übersiedlung in das Dorf in der Stadt, den Markhof im 3. Bezirk, wo derzeit noch emsig gebaut, geputzt, ausgemalt, Möbel transportiert, eingerichtet und der Umzug geplant wird. Alle arbeiten zusammen, Profis, Lernbegleiter, Eltern und Kinder – Mithilfe und Spenden aller Art sind herzlichst erbeten!! Nähere Informationen findet ihr unter www.colearning-wien.at
Noch komme ich „meine“ Colearning-Kinder also jeden Montag in der Hofmühlgasse 17 besuchen. Was an dem jeweiligen Tag geschehen wird, ist immer eine Überraschung. Bei schönem Wetter brechen wir manchmal gleich zu einem Ausflug auf, sonst beginnt der Tag wie jeder andere mit einem Morgenkreis, bei dem alle Anwesenden dabei sind, kleinere Kinder oft eng an ihre älteren Partner geschmiegt oder auf deren Knien sitzend. Sogar die ganz Kleinen, ein Vierjähriger und eine Eineinhalbjährige, blicken aufmerksam in die Runde. Als erstes geht ein Mädchen anhand einer Namensliste durch, wer da ist und wer fehlt. Danach wird gemeinsam ein ungefährer Tagesplan erstellt und dann liest noch eines der Kinder allen etwas vor – in den letzten Wochen zum Beispiel aus dem philosophischen Kinderbuch „Sara und Seth“. Erstaunt stelle ich fest, dass sogar sehr junge Zuhörer der ziemlich anspruchsvollen Geschichte kaum weniger gespannt zuhören als ich. Manchmal lässt der eine oder die andere danach eine Bemerkung fallen, die zeigt, wie genau sie verstanden haben, worum es geht! Und falls der Text Fragen aufwirft, gibt es ja rundum genug Menschen jeden Alters, mit denen man darüber sprechen kann…
Beim Verlesen der Namen abwesender Kinder gab es neulich eine spezielle Überraschung. Als das Mädchen, das die Namensliste verwaltet, verkündete, dass ein Junge in dieser Woche nicht kommen werde, weil er mit seinen Eltern auf Reisen sei, protestierte dessen kleine Partnerin: „Nein, der ist doch eh da!“ Und dann rückte sie mit verschmitztem Lächeln ein wenig zur Seite, so dass alle es sehen konnten: Sie saß auf einer über ihren Sessel gebreiteten eher flachen, aber fast lebensgroßen Stoffpuppe – einem „Avatar“ ihres abwesenden Partners -, die sie am Wochenende gemeinsam mit ihrer Freundin aus verschiedenfarbigen Stoffresten genäht und mit Watte ausgestopft hatte: Kopf, Gesicht, Haare, Hemd, Hose, ja sogar Schuhe – alles fein säuberlich ausgeschnitten und mit flotten Stichen zusammengenäht! Welch ein Liebesbeweis einer Achtjährigen für einen Dreizehnjährigen! Und das Kunstwerk machte im besten Sinn des Wortes „Schule“, denn im Lauf des Vormittags äußerten mehrere Kinder aus der Gruppe der Unter-Zehnjährigen den dringenden Wunsch, sie wollten bitte auch aus Stoffresten etwas nähen… 🙂
Wie eng die emotionale Verbundenheit von Großen und Kleinen ist, zeigte sich neulich auch auf einer gemeinsamen Fahrt zur Jesuitenwiese. In der U-Bahn und im Bus sah ich große Buben glücklich lächelnd die Arme ausbreiten, wenn Jüngere auf ihrem Schoß sitzen wollten. In solchen Momenten verwandeln sich unsichere Pubertierende in stolze Beschützer – ganz von selbst, ohne Aufforderung oder äußeres Zutun, dafür mit umso nachhaltigerer Wirkung. Denn diese unscheinbaren Erfahrungen schreiben sich unverlierbar ihrem Körpergedächtnis ein und werden ihnen sicher ein Leben lang zugute kommen! In einer Klasse mit lauter Gleichaltrigen, die unter ständigem Konkurrenzdruck stehen, könnten sie so eine Erfahrung niemals machen…
Auf der Jesuitenwiese angekommen verteilten sich die Kinder auf zwei weit auseinander liegende Spielplätze, während wir drei Begleiterinnen und Hüterinnen der Jause an einem großen Tisch in der Sonne gemütlich beisammen saßen. Zwei jugendliche Mädchen fragten, ob sie nicht allein spazieren gehen dürften, sie würden sich in der Gegend ohnehin gut auskennen. Unser Vertrauen vergalten sie uns, indem sie fünf Minuten vor der ausgemachten Zeit gut gelaunt zurückkamen. Die anderen tobten sich inzwischen nach Herzenslust aus, schaukelten, rutschten, kickten, spielten im Sand, kletterten auf den Spielgeräten herum und kamen zwischendurch zu uns, um ihre Jacken bei uns abzulegen, ein bisschen zu plaudern, Wasser zu trinken oder etwas zu essen.
Aus einiger Entfernung beobachteten wir, wie geschickt ein Dreijähriger unter den anerkennenden Blicken der Größeren ganz allein bis in das Netz am obersten Ende des Klettergerüsts stieg und sich dort zu ihnen legte. Seine Mutter ist Lernbegleiterin im CLS und hat ihn seine Erfahrungen immer schon ungestört selbst machen lassen – ohne besorgte Ermahnungen und ohne „helfend“ einzugreifen. Wir sind die Nutznießerinnen ihres großherzigen Erziehungsverzichts, denn um diesen kleinen Mann brauchen wir uns keine Sorgen zu machen: Er kann seine Fähigkeiten wunderbar einschätzen und entwickelt sie in atemberaubenden Tempo selbstständig weiter.
Ausflüge mit Großen und Kleinen sind für uns Begleiterinnen die reine Erholung, denn wir können uns darauf verlassen, dass sie einander im Auge behalten und im Notfall zu Hilfe kommen. Anders als im ersten Jahr haben sich die Kinder inzwischen auch schon daran gewöhnt, ihre Konflikte untereinander zu regeln. Es kommt kaum noch vor, dass sie wie früher reflexartig nach einem erwachsenen Schiedsrichter rufen. Ihnen genügt es zu wissen, dass wir da sind, und zu spüren, wie wichtig sie uns sind. Für die Freiheit, die wir ihnen zugestehen, danken sie uns mit ihrer wunderbaren Offenheit und ihrer ansteckenden Freude!
Eine solche Freiheit, ob drinnen oder draußen, ist natürlich nur möglich unter der Obhut von Erwachsenen, die sich nicht mehr hinter Rollen, Funktionen, Dienstzeiten und vorgeschriebenen Plansolls verschanzen. Im Colearning Space üben die Jugendlichen, die Lernbegleiter und auch wir Elders uns in der hohen Kunst, als unverwechselbare Persönlichkeiten ganz präsent zu sein und flexibel auf die Gegebenheiten des Augenblicks zu reagieren, jede/r auf ihre/seine Weise, so gut sie oder er es eben gerade vermag. Das ist keineswegs immer so angenehm und einfach wie unter freiem Himmel auf der Spielwiese!
Vor allem mit den älteren Kindern, deren Selbstbewusstsein und Begeisterungsfähigkeit in der Schule schwer gelitten haben, brauchen die Lernbegleiter unendlich viel Geduld. Statt schwierige Jugendliche auszuschließen und die Verantwortung an Expertinnen abzugeben, wie das in vielen Institutionen gang und gäbe ist, halten sie deren Traurigkeit und schlechte Laune aus, ja erkennen sie als völlig berechtigt an. Darum verkneifen sie sich Vorwürfe und Ratschläge, stehend ihnen mitfühlend bei oder nehmen sich die Zeit, immer wieder offen über Medienkonsum, Alkohol, Drogen und Lebensprobleme aller Art mit deprimierten Jugendlichen zu argumentieren, um sie zur Selbstverantwortung zu ermutigen. Als lebendige Vorbilder dienen dabei die kleinen Kinder, die das von Natur aus noch können: Geleitet von ihrer intrinsischen Motivation machen sie mit schlafwandlerischer Sicherheit einen Entwicklungsschritt nach dem anderen und zeigen dabei ein ganz feines Gespür für ihre eigenen und anderer Menschen Grenzen. Ich bin schon sehr neugierig, was die Kleinen, die von Anfang an in einer solchen freien Gemeinschaft aufwachsen dürfen, uns noch alles lehren werden!
Zum Abschluss möchte ich euch noch zwei berührende Geschichten von einem 12-jährigen hoch sensiblen Jungen erzählen, der in der freien Atmosphäre des CLS Wege gefunden hat, traumatische persönliche und schulische Erfahrungen kreativ zu verarbeiten. Er ist ein begnadeter Sprachspieler, der begeistert Horrorgeschichten liest und auch selbst verfasst, um mit äußeren Eindrücken, die ihn überfordert haben, auf spielerische Weise fertig zu werden. Vor ein paar Monaten kamen wir ins Gespräch über Lieblingslektüren. Ein Junge, der dabei war, erwähnte als Lieblingsbuch den bekannten Bestseller „Gregs Tagebuch“, was mein kleiner Freund absolut nicht verstehen konnte, weil sich die Menschen in diesem Buch doch so schrecklich benehmen! „Das sagst ausgerechnet du, der am liebsten Horrorgeschichten mag?“, fragte der andere abschätzig. Und bekam zur Antwort: „Na sicher, weil Monster MÜSSEN ja böse sein, das ist ihre Aufgabe! Aber doch nicht MENSCHEN…!“
Und beim Abwaschen nach dem (von den Kindern wie immer selbst zubereiteten) Mittagessen hat dieser Junge mir neulich eine weitere Probe seiner tiefen Weisheit gegeben. Ich kam mit dem Abtrocknen kaum nach, weil er mit so unvermuteter Geschwindigkeit die Teller aus dem Schaff mit Seifenwasser in das Spülwasserschaff und von dort auf das vor mir ausgebreitete Abtropftuch beförderte. Als ich ganz erstaunt sein Arbeitstempo bewunderte, entspann sich in unserer fröhlichen Geschirrspülrunde ein philosophisches Gespräch über Geschwindigkeit und Langsamkeit und den weit verbreiteten Ehrgeiz, der Schnellste zu sein. Eine Lernbegleiterin lobte etwa die besonderen Qualitäten des Romans Die Entdeckung der Langsamkeit und setzte dann hinzu: „Allerdings können auch Menschen, die unter großem Stress stehen, dadurch langsam werden“, worauf der kleine Philosoph ihr dezidiert entgegnete: „Aber das ist GANZ etwas anderes als die KUNST DER LANGSAMKEIT!“
Wir grüßen euch herzlich und hoffen, dass ihr mit Taten, Worten und guten Gedanken – alles gleich wichtig! – unsere Vorhaben weiter unterstützt!
Alexandra und Sibylle