Mai 2016

Mai 2016


Liebe Scholé-Freunde,

Diese Woche habe ich eine Freilerner-Mutter zur psychiatrischen Überprüfung begleitet – klingt schlimm, nicht wahr? Ist es auch, finde ich. Weil Beispiele mehr sagen als theoretische Abhandlungen, möchte ich euch über dieses Erlebnis berichten: Es stellt exemplarisch dar, wie es hochsensitiven Kindern und ihren Eltern nur allzu oft ergeht.

Die Sache begann damit, dass das 3. Kind dieser Frau, ein bildschöner, intelligenter blonder Bub, in allen „Anstalten“, egal ob Kindergarten, öffentliche Schule oder private Montessorischule, von manchen Kindern immer wieder gehänselt und geschlagen wurde: Neckten sie ihn, drehte er sich um und ging. Rempelten oder verprügelten sie ihn, wehrte er sich nicht, sondern begann zu weinen. Diese für einen Buben „nicht normalen“ Reaktionen stachelten die Aggressivität der Angreifer noch weiter an. Auch die Lehrer, deren bewährte Schlichtungsmethoden kläglich versagten, befanden entnervt, der Schüler müsse eben endlich lernen, sich zur Wehr zu setzen, im Leben würde er sonst ja auch nicht zurechtkommen…

Der Bub wollte das aber nicht lernen. Er entwickelte alle möglichen körperlichen Symptome und brach in Tränen aus, wenn er zur Schule gehen sollte. Die Mutter ließ nichts unversucht, was Psychologen und Pädagogen ihr rieten, um das Kind endlich „schultauglich“ zu machen. In der 5. Schule arbeitete sie sogar unentgeltlich als Hilfslehrerin mit, um ihm nahe zu sein und so seine Angst zu lindern. Doch es half alles nichts. Als er 12 war, diagnostizierten seine Therapeuten eine schwere Soziophobie, also krankhafte Menschenangst. Dank dieser Diagnose konnte ihn die Mutter während des laufenden Schuljahres zum häuslichen Unterricht abmelden.

Um sich vom Vorwurf des Mobbings an ihren Schulen rein zu waschen, äußerten 2 der betroffenen Direktorinnen den Verdacht, die Mutter könnte für den Zustand des Buben verantwortlich sein. Daraufhin forderte das zuständige Jugendamt ein psychiatrisches Gutachten über die Mutter, ausgestellt von einer amtlich dazu befugten Spezialistin. Ich konnte Frau X. überzeugen, um des lieben Friedens willen auf diese Forderung einzugehen, und versprach ihr, sie wieder zu begleiten. Was ich für eine ärgerliche Formalität gehalten hatte, sollte sich jedoch als Bumerang erweisen… Ich bin sehr froh, das persönlich miterlebt zu haben, weil es in der Nussschale die Unerbittlichkeit eines auf Konkurrenz- und Problemdenken fixierten Gesellschaftssystems zeigt.

Die Psychiaterin begrüßte Frau X. mit einem betont herzlichen Lächeln und bemühte sich, mich zu übersehen. Als Frau X. mich als ihre Begleitperson vorstellte, meinte die Ärztin irritiert, sie wäre doch keine Feindin! Laut Auskunft eines Juristen seien Begleitpersonen aber jederzeit erlaubt, entgegnete die Mutter. Nein, hier handle es sich nicht um eine „normale“ Konsultation, sondern um einen Auftrag des Jugendamts, weshalb ich draußen bleiben müsse.

Weiterhin um Frieden bemüht, blieb ich weisungsgemäß im Wartezimmer sitzen und wurde erst hereingebeten, als es um das Freilernen ging. Meinen Schilderungen über die wachsende Gemeinschaft der Freilernerfamilien und die erwiesenen Vorteile freien Lernens, gerade für hochsensitive Kinder wie den Sohn von Frau X., folgte die Ärztin mit immer eisiger werdender Miene. Die Maske der Freundlichkeit zerbrach endgültig, als ich zu sagen wagte, dass in jedem Kind besondere Begabungen steckten. „Na, das hören Eltern sicher gerne!“ warf sie höhnisch ein. Dann wurde ich gleich wieder hinausgeschickt, denn ich hatte die unbotmäßige Frage gestellt, wie denn der Auftrag des Jugendamtes an sie laute? Diese Frage sei nur unter vier Augen zu beantworten…

Die Frage wurde Frau X. natürlich auch unter vier Augen nicht beantwortet, stattdessen verlangte die Psychiaterin, dass sie zum nächsten Termin mit ihrer gesamten Familie bei ihr erscheine! DAS GEHT ENTSCHIEDEN ZU WEIT, fand ich und schrieb am nächsten Morgen folgenden offenen Brief:

Sehr geehrte Frau Doktor,

Als erstes möchte ich klarstellen, was mich dazu motiviert, Frau X. und andere Eltern hochsensitiver Kinder zu amtlich verordneten Terminen wie dem gestrigen zu begleiten: Ich trage damit meine Dankesschuld gegenüber jenen Menschen ab, die mir ebenso freiwillig und unentgeltlich ihre Hilfe angeboten haben, als ich mit meinen eigenen Kindern in vergleichbaren Schwierigkeiten war. Ich habe meinen Beruf als Lektorin aufgegeben, um meine Kinder zu begleiten, die mit dem Schulstoff unterfordert, mit dem sozialen und psychischen Druck des Schulalltags hingegen überfordert waren.

Und obwohl seither fast 20 Jahre ins Land gegangen sind, stelle ich mit Erschrecken fest, dass Schul- und Behördenvertreter nach wie vor meist mit Angst und Abwehr reagieren, wenn sie mit Kindern zu tun haben, die das „normale“ Maß an Wissen, Empathie, Sensibilität und Gerechtigkeitssinn nicht UNTER- sondern ÜBERSCHREITEN! Nicht besser geht es Eltern, die das „normale“ Maß an Fürsorge und Einfühlungsvermögen für ihr Kind ÜBERschreiten, selbst wenn es sich, wie bei Frau X., um eine gesunde, glücklich verheiratete, in „geordneten” Verhältnissen lebende, erfahrene Mutter handelt, die zudem 8 Jahre lang den Beruf einer Tagesmutter ausgeübt hat, monatelang in einer Schule gearbeitet hat usw., d.h. weit ÜBERdurchschnittliche Erfahrungen mit Kindern hat!!!

Meine Frage, worin eigentlich Ihr Auftrag besteht, haben Sie auch Frau X. nicht beantwortet, obwohl ich Ihre Aufforderung, das Zimmer zu verlassen, weil diese Frage nur unter vier Augen zu beantworten sei, brav befolgt habe.

Was hat Sie dazu bewogen, Frau X. nochmals mit ihrer ganzen Familie zu sich zu bestellen? Und deren verständliche Empörung über diese neue Forderung als Indiz dafür zu interpretieren, dass mit ihr etwas nicht in Ordnung sein muss, wie Ihren Worten und Ihrer Miene ja überdeutlich zu entnehmen war??

Als Expertin für Kinder- und Jugendpsychologie können Sie doch nicht ernstlich befürworten, dass Frau X. ihre erwachsenen Kinder, die beide erfolgreich die Schule absolviert haben und längst ausgezogen sind, in die Probleme mit einbezieht, die der hochsensitive kleine Nachzügler-Bruder mit Schule und Jugendamt hat?! Als fürsorgliche Mutter versucht Frau X. die älteren Kinder, die selbstständig und mit ihren eigenen Berufs- und Beziehungsfragen voll ausgelastet sind, natürlich davon frei zu halten, so gut es geht!! Und was den Vater betrifft, hegt sie die leicht begreifliche Sorge, dass ihm nach all den Zumutungen, denen seine Frau und sein Sohn bereits ausgesetzt waren, irgendwann der Kragen platzt… was einer friedlichen Lösung möglicherweise auch nicht förderlich wäre!

Dem folgenden Absatz aus einem Internet-Eintrag über hochsensitive Kinder können Sie entnehmen, dass dieser „Fall“ kein Einzelfall ist. Schätzungen zufolge sind 10% bis 15% der Bevölkerung überdurchschnittlich sensibel, was ein Grund zur Freude sein könnte, wenn es gelingt, mit diesen Menschen so umzugehen, dass sie ihre Talente (die unsere Erde dringend braucht!!!) frei entfalten können. In den Schulen werden sie es wahrscheinlich erst dann aushalten, wenn gewaltfreie Kommunikation dort als Pflichtübung für Erwachsene und Kinder selbstverständlich geworden ist. Bis dahin sehe ich keine andere Lösung als das FREILERNEN, das ich eben deshalb auch weiterhin unterstützen und fördern werde, so gut ich kann.

▪ Integrationsprobleme, Aussenseiterprobleme, Mobbing: Hochsensible Kinder fallen manchmal auf und werden durchschnittlich häufiger Opfer von Aggressionen und Mobbing. Sie sind beliebte Angriffsopfer, da sie intensiv reagieren (z.B. schneller weinen), dadurch bieten sie den andern ein “Schauspiel”; zudem sinnen sie seltener auf Rache. Bei grösseren Kindern kann dies auch über die sozialen Medien geschehen (Facebook etc.) und schlimme Formen annehmen. Wenn Sie bei einem hochsensiblen Kind eine Isolierungstendenz feststellen und merken, dass es häufig ausgeschlossen wird, warten Sie bitte nicht zu lange und teilen Sie dies den Eltern mit, da so eine Situation einen grossen Leidensdruck verursachen kann. Ein hochsensibles Kind braucht normalerweise keinen Zugang zu einer grossen Gruppe, sondern ist mit einem guten Freund, einer guten Freundin zufrieden.

Mit der Bitte, beim Jugendamt einen sofortigen Abschluss dieses entwürdigenden Überprüfungsverfahrens zu befürworten, und freundlichen Grüßen. Alexandra Terzic-Auer

Ich hoffe, ihr könnt mitfühlen, wie es der Mutter geht, die nun entschlossen ist, sich von den Ämtern nichts mehr vorschreiben zu lassen! Dem Buben geht es zum Glück gut, seitdem er zu Hause bleiben darf – er hat ein paar Kilo zugenommen und beginnt sich seines Lebens wieder zu freuen…

Seid herzlich gegrüßt Alexandra