Liebe Scholé-Freunde,
schon zum 7. Mal haben mein Mann und ich Urlaub in Vassilikos gemacht, das sich von anderen Touristenorten auf Zakynthos so wohltuend unterscheidet, WEIL MAN HIER AUF SCHRITT UND TRITT FREILERNERN ALLER ALTERSSTUFEN BEGEGNET :-)) Statt sich von professionellen Unten-Haltern zerstreuen und ablenken zu lassen, begeistern sie sich an Salsa-Tanzen, lernen Ukulele spielen, Ikonen malen, griechisch kochen, oder erforschen Geschichte, Fauna und Flora der Insel. Ohne Druck, ohne Zwang, mit ganz viel freier Zeit dazwischen und nur solange sie Lust haben. Wir genießen die wunderbar entspannte Stimmung, die hier in der Luft liegt und sich auch auf die griechischen Gastgeber auswirkt: Bescheidene, zufriedene Gäste, die über Jahre immer wieder kommen, werden zu persönlichen Freunden und machen ihnen bewusst, wie kostbar die Natur und die Landschaft sind, die den unverwechselbaren Rahmen für das alles bildet. So konnten Zerstörungen wie in den Nachbarorten bisher erfolgreich verhindert werden.
Obwohl ich an den Kursen nicht mehr aktiv teilnehme, gehe ich gerne zu den allwöchentlich stattfindenden „Finissagen“, festlichen Zusammenkünften unter freiem Himmel oder einem Zeltdach, bei denen die KursteilnehmerInnen vorführen, was sie innerhalb der vergangenen fünf Tage alles geschaffen und dazu gelernt haben: Ich bewundere die 6 bis 16-Jährigen TänzerInnen und ihre junge Trainerin, die gemeinsam eine komplexe Choreografie erarbeitet haben. Den Chor, der mit mitreißender Begeisterung alte und neue Lieder zum Besten gibt. Die phantasievollen Sprachspiele von Menschen, die beruflich mit völlig anderen Dingen zu tun haben. Die Naturstudien künstlerischer Laien, denen beim Malen zum ersten Mal aufgefallen ist, wie viele Schattierungen eine Zwiebel hat, wie rasch sich die Farben des Meeres verändern oder wie komplex eine unscheinbare Oleanderblüte bei genauerem Hinsehen gebaut ist.
Und wie jedes Jahr frage ich mich: Was hindert uns daran, nur noch auf diese lustvolle Weise zu lernen, wenn mit so wenig Aufwand so viel möglich ist? Wozu verschwenden wir unsere Energie auf das Aufspüren, Analysieren und Ausgleichen angeblicher Defizite, anstatt endlich die Blickrichtung umzukehren, uns an den so reichlich vorhandenen Fähigkeiten der Menschen zu erfreuen und ihnen die Möglichkeit zu geben, diese Fähigkeiten nach Herzenslust auszuleben? Warum ziehen die Bildungsministerien anstelle von ExpertInnen für alle nur denkbaren Erziehungsprobleme nicht lieber erfolgreiche Praktiker zu Rate – wie zum Beispiel die KünstlerInnen und KunsttherapeutInnen, die hier bei einem Arbeitseinsatz von 1,5 bis 2 Stunden pro Tag solche Erfolge erzielen und sich dabei selbst noch erholen? Der Wiener Anwalt Wolfgang Löhnert, der diese Freizeit-Bildungsinstitution vor mehr als 20 Jahren gemeinsam mit Kunstbegeisterten gegründet hat, könnte dem Finanzminister vorrechnen, wie unwahrscheinlich kostengünstig ein solches Modell ist, wenn man das Verhältnis von Aufwand und Ergebnis mit dem unseres ebenso kostpieligen wie ineffizienten Schulsystems vergleicht…
Vor vielen Jahren finanzierte eine deutsche Stiftung (ich weiß leider nicht mehr, welche) einen Versuch, bei dem „Schulversager“ aus so genannten Brennpunktschulen in Begleitung von FreizeitpädagogInnen auf ein sechswöchiges Feriencamp geschickt wurden. Dort durfte maximal 2 Stunden pro Tag im herkömmlichen Sinn „gelernt“ werden, die übrige Zeit sollten die Kinder mit Spiel, Sport, Kunst und Theaterspielen verbringen. Alle 60 Schüler und Schülerinnen zwischen 11 und 14 Jahren, viele von ihnen Migrantenkinder, waren vor Beginn des Feriencamps getestet worden. Nach ihrer Rückkehr wurde ihr Bildungsstand erneut überprüft. Das verblüffende Ergebnis: Innerhalb von nur 6 Wochen hatten sie so viel dazu gelernt wie Kinder sonst in 1,5 Schuljahren lernen!!! Ganz abgesehen von den Verbesserungen ihres gesundheitlichen und seelischen Befindens…
Das zweite Beispiel, das mir endgültig die Augen geöffnet hat, stammt aus dem Buch ÜBERLEBENSSCHULE von David Gribble, das ich euch von Herzen empfehlen kann: 1989 gründete die indische Sozialarbeiterin Rita Pannicker in New Delhi die private Organisation Butterflies Child Rights. Auf dem Weg zur Arbeit war sie immer wieder Straßenkindern begegnet. Langsam und vorsichtig versuchte sie sich mit ihnen anzufreunden, denn sie wollte herausfinden, wie diese Kinder es überhaupt schaffen, inmitten von so viel Armut, Not und Gewalt zu überleben. Und sie wollte von ihnen selbst erfahren, welche Art Hilfe sie sich dabei wünschen.
Es war gar nicht leicht, das Vertrauen der Kinder zu gewinnen, denn mit den meisten Erwachsenen – egal ob Polizisten, Sozialarbeiter oder Geschäftsbesitzer – hatten diese Kinder bisher schlechte Erfahrungen gemacht. Sie wurden entweder getreten, verjagt, um ihren Lohn geprellt und misshandelt, oder gegen ihren Willen eingefangen, von ihren Familien getrennt und in Bildungsinstitutionen gesperrt. „Vergiss Bildung – wenn wir lernen, dann sterben wir alle vor Hunger. Eltern, Brüder, Schwestern, alle werden sterben. Die Regierung kann uns unsere Eltern nicht wiederbringen. Wenn es zu Hause genug Geld gibt, dann wären wir ja nicht gezwungen zu arbeiten, dann hätten wir ja gelernt. Wir würden ja gerne lernen, aber wer wird inzwischen alles andere machen?“ So fasste es einer der Jungen bei einer IDEC (International Democratic Education)-Konferenz im Jahr 2000 zusammen.
Rita Pannicker erkannte, dass es darum ging, die unglaublichen Leistungen dieser Kinder zu würdigen, ihren Beitrag zum Überleben der ganzen Familie anzuerkennen und sich für ihre Rechte einzusetzen, anstatt sie zwangsweise in Institutionen einzuweisen, wo zudem meist grauenvolle Zustände herrschen. Gemeinsam mit anderen Freiwilligen baute sie ein Netzwerk auf, das die Kinder bei Auseinandersetzungen mit Polizei und Ladenbesitzern unterstützt, ihnen hilft, einigermaßen sichere Schlafplätze zu finden, sie über ihre Rechte informiert und sie mit demokratischen Spielregeln vertraut macht, so dass sie sich zu Kinderarbeitsgewerkschaften zusammenschließen können. Zu bestimmten Zeiten sind Butterflies-Mitarbeiter unterwegs mit Metallkoffern, die Stifte, Spiel- und Lernmaterialien enthalten. Die Straßenkinder suchen sich selbst aus, was sie spielen oder lernen möchten: „Sie geben uns die Freiheit zu spielen, wir können zu ihnen gehen und einfach nur zeichnen. Wir gehen zu den Kinderversammlungen und dort wird Mitbestimmung wesentlich. In den Versammlungen können wir unsere Meinung äußern, wir können sagen, was wir lernen wollen.“
Die Organisation Butterflies gibt es inzwischen in vielen extrem armen Regionen, und überall hat sich gezeigt: Wenn sie sich um ihre eigenen Belange kümmern dürfen und ihre Würde gewahrt wird, erlernen selbst schwer arbeitende Kinder Lesen, Schreiben und andere wichtige Dinge einfach nebenbei. Und zwar ohne ihre Familien im Stich lassen zu müssen und ihre bewunderungswürdigen Überlebensfähigkeiten einzubüßen – während Straßenkinder, die zwangsbeschult wurden, sich danach im Leben oft nicht mehr zurechtfinden… Die dank Butterflies selbstermächtigten Kinder hingegen lernen, wie derselbe indische Straßenjunge im Jahr 2000 berichtete, noch etwas, was in der Welt von morgen überlebenswichtig sein wird: internationale Solidarität. „Ein weiteres Beispiel, was wir bei Butterflies gemacht haben: Vor sehr kurzer Zeit, vor eineinhalb Jahren, gab es in unserem Land Krieg mit Pakistan. Das war in Kargil, dort wo die Kämpfe stattfanden und viele Menschen starben. Aber die Kinder waren diejenigen, die in den Dörfern beider Länder am meisten davon betroffen waren. Wir diskutierten das in der Gewerkschaft, und wir fanden, dass es wichtig ist, dass wir uns mit den Kindern dieser Gegend, die vom Krieg betroffen sind, solidarisieren. Also sammelten wir Geld und schickten es den Kindern beider Länder.“
Kinder helfen Kindern. Die Armen den Ärmsten. Und alle wachsen daran. Das ist der Weg zum Weltfrieden.
Schöne selbstbestimmte Hochsommertage wünscht euch herzlichst
Alexandra